Köpfe der Zukunft

Dr. Havva Mazı. FH Bielefeld

                                         Mazi 

Havva Mazı ist vor mehr als 20 Jahren nach Deutschland gekommen. Ihr Ziel: Professorin werden. Nun qualifiziert sie sich mit FH-Personal an der FH Bielefeld für diesen Schritt. Porträt einer Frau, die viele Widerstände überwinden musste.

Wenn Havva Mazı die Geschichte ihres Bildungswegs erzählt, ist das lange Zeit die Geschichte eines Kampfes. Die Geschichte des Kampfes, wie sie sich als Mädchen gegen ihren Vater durchsetzte, der sie nicht zur Schule schicken wollte, die Geschichte des Kampfes, wie sie sich als junge Frau erfolglos gegen ihre Exmatrikulation wehrte, weil sie in der Türkei trotz des verschärften Kopftuchverbots nach dem Militärputsch vom 28. Februar nicht auf das Kopftuch verzichten wollte, die Geschichte des Kampfes, wie sie nach Deutschland ging und während ihres Studiums mit Teil- und Vollzeit-Jobs ihre Familie über Wasser halten musste, wie sie anschließend jahrelang arbeitete, bis sie endlich eine Möglichkeit fand, ihren Traum einer Promotion zu erfüllen. „Es war immer ein Kampf. Seit meinem neunten Lebensjahr kämpfe ich für meine Bildung“, sagt Mazı. Erst jetzt sei es anders – und das liegt am Programm „FH-Personal“, das Mazı an der Fachhochschule Bielefeld eine Teilzeitdozentur ermöglicht, mit der sie sich für eine Professur an einer Fachhochschule / Hochschule für Angewandte Wissenschaften qualifiziert. „Das ist jetzt das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine Förderung bekomme, um mich zu bilden“, sagt Mazı. „Für mich ist das unglaublich. Das habe ich bisher noch nie erlebt, dass man mich so fördert wie in diesem Programm.“ Sie sei, sagt Mazı, jetzt 52 Jahre alt. Und mit „FH-Personal“ müsse sie zum ersten Mal Hindernisse auf ihrem Bildungsweg nicht alleine überwinden.

„Als ich den Raum verlassen habe, habe ich mir gesagt: Jetzt gehst du als Verliererin. Aber irgendwann wirst Du einen Raum wie diesen als Professorin betreten. Und das ist bis heute mein Ziel geblieben.“

Dr. Havva Mazı arbeitet mit einer Teilzeitdozentur an der FH Bielefeld. Ihr Ziel: Professorin werden.

Es ist ein sonniger Tag an der Fachhochschule Bielefeld. Studierende verteilen Flyer in der Cafeteria, andere eilen in Vorlesungen, Havva Mazı sitzt in ihrem Büro im ersten Stockwerk. Es ist ihr eigenes Büro, als Lehrbeauftragte hatte sie an der Fachhochschule lange keins.

Mazı ist im alltäglichen Hochschulstress, sie muss Seminare vorbereiten, Referate absprechen, ihre eigenen Projekte vorantreiben: Mazı beschäftigt sich in ihrer Forschung mit chronischen Krankheiten, Migration und Gesundheit oder kultursensibler Pflege, zuletzt veröffentlichte sie eine Studie mit dem Titel „Weiblichkeit und Sucht“, ein Thema, über das kaum offen gesprochen wird. Ziel der Studie war es herauszufinden, was Frauen benötigen, um sich aus ihrer Sucht zu befreien.

Für Mazı war es ein langer Weg bis an die Fachhochschule Bielefeld. Aufgewachsen ist sie in einer Kleinstadt in West-Anatolien. Ihr Vater wollte nicht, dass sie zur Schule geht. „Das war 1980, kurz vor dem Militärputsch“, sagt Mazı. „Es war alles ziemlich chaotisch. Aber mein Vater hat es abgelehnt, mich zu einer weiterführenden Schule zu schicken. Das war Tradition, zudem gab es auch diesen Druck der Gesellschaft: Mädchen gehen nicht zur Schule. Meine große Schwester hatte noch eine weiterführende Schule besuchen dürfen. Aber bei mir war der Druck dann größer geworden. Das war eine schwierige Situation für meinen Vater.“

Mazı findet mit ihrem Vater einen Kompromiss: Sie geht nicht in dem Ort, in dem sie leben, zur Schule – sondern auf ein Internat. Da Mazı nur die Möglichkeit hat, eines dieser Internate zu besuchen, wenn sie dort auch einen Beruf erlernt, entscheidet sie sich für die Ausbildung zur Krankenschwester. „Das war die einzige Chance für mich, zur Schule zu gehen“, sagt sie. „Aber ich wollte das unbedingt. Und so waren dann alle zufrieden.“

„Ich wollte mehr von meinem Leben, als zu Hause zu sitzen"

Eine Straßenszene in Ankara. Hier begann Dr. Havva Mazı ihre akademische Laufbahn.

Mit 13 Jahren startet Mazı damals in einer Stadt fern ihrer Heimat ihre Berufskarriere. Nach ihrem Abschluss der Ausbildung zur Krankenschwester möchte sie sich weiterbilden, möchte studieren, gerne später als Lehrkraft arbeiten. Mazı besteht die Aufnahmeprüfung für eine renommierte Hochschule in Ankara, beginnt ein Studium der Pflegewissenschaften. Während sie dort ihr Studium fortsetzt, verschärft sich das Kopftuchverbot und sie ist gezwungen, ihr Studium abzubrechen. Sie schließt jedoch ihr Studium an einem Institut ab, in dem das Kopftuch nicht verboten ist, und qualifiziert sich als Gesundheitspädagogin und Lehrerin für Pflegeberufe. Mazı möchte ihre Ausbildung fortsetzen und einen Master-Abschluss machen. Ihr Abschlusszeugnis des Instituts reicht jedoch nicht aus, um ihr Masterstudium fortzusetzen. Sie besteht die Prüfung an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften einer Universität in Ankara und ist daher berechtigt, das Ergänzungsstudium durchzuführen. Hier studiert sie zwei Semester, sie steht vor der letzten Prüfung, als wieder Probleme auftauchen. Mazı erzählt: "Einer der Professoren hat gesagt: Zu meiner Vorlesung, zu meinem Kurs dürfen kopftuchtragende Frauen nicht kommen. Und ich habe gesagt: Nein, das mache ich nicht, das bin ich, mein Kopftuch gehört zu mir. Ich bin zur Prüfung gegangen und während der Prüfung hat der Professor den Raum betreten und mich rausgeschmissen. Als ich den Raum verlassen habe, habe ich mir gesagt: Jetzt gehst du als Verliererin. Aber irgendwann wirst Du einen Raum wie diesen als Professorin betreten. Und das ist bis heute mein Ziel geblieben.“

Ihr ganzes Leben, sagt Mazı, habe sie sich bilden wollen – und vielleicht sei ihr das so wichtig, weil ihr es so oft verwehrt worden sei.

Einige Jahre arbeitet Mazı als Krankenschwester in einem Kinderkrankenhaus und als Lehrerin. Dann kam ein neues Kopftuchverbot, das es ihr faktisch unmöglich machte, ihre Arbeit fortzuführen. „Ich wollte mehr von meinem Leben, als zu Hause zu sitzen“, sagt Mazı. „Ich war inzwischen verheiratet, hatte zwei Kinder. Und wir haben uns dafür entschieden, nach Deutschland zu gehen, weil ich wusste, dass Bildung dort als demokratisches Recht gilt.“

In Deutschland arbeitet Mazı als Krankenschwester und danach als Fachkraft beim Sozialdienst in einer Rehabilitationsklinik, um ihr Public Health-Studium an der Universität Bielefeld und den Aufenthalt ihrer Familie in Deutschland zu finanzieren. Während ihrer Tätigkeiten fällt ihr auf: Für Menschen mit Migrationshintergrund ist es oft schwer, den Zugang zur richtigen Behandlung zu finden. Außerdem unterscheidet sich ihr Umgang mit Krankheiten von Einheimischen. Ihnen stehen unterschiedliche Ressourcen für die Bewältigung von krisenhaften Ereignissen zur Verfügung und sie setzen diese abhängig von ihrer jeweiligen Familienstruktur bei der Krankheitsbewältigung ein. In ihrer Doktorarbeit mit dem Titel „Bewältigung chronischer Krankheit im Migrationskontext am Beispiel von türkeistämmigen muslimischen Schlaganfallpatienten“ setzt sich Mazı mit dieser Beobachtung wissenschaftlich auseinander. „Viele dieser Menschen mit ihren unterschiedlichen Ressourcen und Herausforderungen habe ich dadurch neu kennengelernt“, sagt Mazı. „Das war sehr interessant für mich.“

„Das ist jetzt das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine Förderung bekomme, um mich zu bilden.“

Für Mazı ist die Verbindung zwischen Hochschule und Praxis gelebter Alltag. Ihr Leben hat fast immer an zwei Orten gleichzeitig stattgefunden. „Ich bin immer in der Praxis gewesen“, sagt sie. „Dadurch habe ich auch sehr viel gelernt. Ich bin kein Mensch, der in die Bibliothek geht und Theorien lernt, ohne sie in der Praxis anzuwenden. Meine Forschungsthemen stammen aus der Praxis, für mich hat es diese Verbindung immer gegeben.“

An der Fachhochschule Bielefeld verfolgt Mazı nun weiter das Ziel, dass sie sich vor mehr als 30 Jahren gesetzt hat: Professorin werden. Die Teilzeitdozentur, die „FH-Personal“ ihr möglich macht, ist dafür ein wichtiger Schritt. „Ich war zwar auch vorher schon als Lehrbeauftragte tätig“, sagt sie. „Aber ich durfte keine Abschlussarbeiten oder berufspraktische Jahre begleiten, dafür muss man hauptamtlich angestellt sein. Und diese Möglichkeit habe ich jetzt, dadurch habe ich auch einen ganz anderen Zugang zu den Studierenden.“

Zudem hat Mazı nun Einblick in das Innenleben einer Hochschule, nutzt die Möglichkeit, ihre Kompetenzen im akademischen Bereich auszubauen. Ihrem Ziel der Professur, sagt sie, sei sie auf jeden Fall nähergekommen.

Bildquellen: Bild 1: privat; Bild 2: Fachhochschule Bielefeld, Bild 3: pexels.